Schriften über pathologisches Lügen tauchten erstmals vor über 100 Jahren in der psychiatrischen Literatur auf und wurden mit Namen wie „pseudologia fantastica“ und „mythomania“ versehen und oft austauschbar verwendet. Es besteht ein gewisser Konsens darüber, dass der deutsche Arzt Dr. Anton Delbruck 1891 als Erster das Konzept der pathologischen Lüge beschrieb, nachdem er einen Bericht über fünf seiner Patienten veröffentlicht hatte.
Trotz der langen Forschungsgeschichte ist die pathologische Lüge weder im Diagnostischen und Statistischen Handbuch (DSM-5) der American Psychiatric Association noch in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation enthalten. Die einzige Erwähnung des pathologischen Lügens im DSM findet sich im Zusammenhang mit der Factitious Disorder (siehe unten). Viele Psychologen und Psychiater sind jedoch der Ansicht, dass es sich um eine eigenständige psychiatrische Störung handelt, wie aus den zahlreichen Arbeiten hervorgeht, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu diesem Thema veröffentlicht wurden.
Auf einer sehr einfachen Ebene bezieht sich das pathologische Lügen auf eine Person, die unaufhörlich Lügen erzählt. Dr. Charles Dike und seine Kollegen definieren es jedoch in einer 2005 erschienenen Ausgabe des Journal of the American Academy of Psychiatry and Law als „Fälschung, die in keinem Verhältnis zu einem erkennbaren Ziel steht, umfangreich und sehr kompliziert sein kann und sich über Jahre oder sogar ein ganzes Leben lang manifestieren kann, auch wenn keine eindeutige Geisteskrankheit, Schwachsinn oder Epilepsie vorliegt.“
Es gibt jedoch auch andere psychiatrische Erkrankungen (z. B. Menschen mit einer manipulativen Persönlichkeit), bei denen pathologisches Lügen als Teil eines umfassenderen Spektrums von Verhaltensweisen und Symptomen auftreten kann. Tatsächlich wird viel darüber diskutiert, ob es sich bei diesem Verhalten wirklich um eine eigenständige und einzigartige Entität handelt oder ob es sich typischerweise als Begleiterscheinung anderer anerkannter psychologischer und/oder psychiatrischer Erkrankungen manifestiert. Dr. Dike und Kollegen stellen dies fest:
„Pathologische Lügner können ihre Lügen in einem Ausmaß glauben, das zumindest für andere als wahnhaft erscheinen mag; sie verfügen im Allgemeinen über ein gesundes Urteilsvermögen in anderen Angelegenheiten; es ist fraglich, ob pathologisches Lügen immer ein bewusster Akt ist und ob pathologische Lügner immer die Kontrolle über ihre Lügen haben; ein äußerer Grund für die Lüge (wie z. B. finanzieller Gewinn) scheint oft nicht vorhanden zu sein, und der innere oder psychologische Zweck der Lüge ist oft unklar; die Lügen beim pathologischen Lügen sind oft ungeplant und eher impulsiv; der pathologische Lügner kann zum Gefangenen seiner Lügen werden; die erwünschte Persönlichkeit des pathologischen Lügners kann die tatsächliche überwältigen; pathologisches Lügen kann manchmal mit kriminellem Verhalten in Verbindung gebracht werden; der pathologische Lügner kann die Unwahrheit seiner Erzählungen zumindest teilweise zugeben, wenn er energisch herausgefordert wird; und beim pathologischen Lügen kann das Erzählen von Lügen oft als Selbstzweck erscheinen. Es ist jedoch offensichtlich, dass kein einzelnes beschreibendes Tableau eines pathologischen Lügners alle nosologischen und ätiologischen Fragen klärt, die das Phänomen des pathologischen Lügens aufwirft.“ (S.344)
Dike und Kollegen haben dann eine Vielzahl psychiatrischer Erkrankungen aufgelistet, die mit pathologischem Lügen in Verbindung gebracht wurden, um zu versuchen, das lügnerische Verhalten in den Kontext dieser bekannten Erkrankungen zu stellen. Die Liste der psychologischen und psychiatrischen Erkrankungen umfasste: (i) Malingering, (ii) Konfabulation, (iii) Ganser-Syndrom, (iv) fiktive Störung, (v) Borderline-Persönlichkeitsstörung, (vi) antisoziale Persönlichkeitsstörung, (vii) histrionische Persönlichkeitsstörung. Es sind wohl die drei letztgenannten Störungen, mit denen pathologisches Lügen am meisten in Verbindung gebracht wird. Im Folgenden werden kurz die Symptome und der Kontext jeder dieser Störungen beschrieben, wie sie von Dr. Dike und seinen Kollegen dargelegt wurden:
- Malingering: Hierbei handelt es sich um eine absichtliche Lüge, bei der die Person körperliche und/oder psychische Symptome grob übertreibt oder völlig belügt. Im Gegensatz zu „archetypischen“ pathologischen Lügnern sind Simulanten typischerweise motiviert, Lügen zu einem bestimmten Zweck zu erzählen, z. B. um eine finanzielle Entschädigung zu erhalten, um nicht arbeiten zu müssen, um dem Militärdienst zu entgehen, um einer Strafverfolgung zu entgehen usw.
- Konfabulation: Hier lügen Menschen ununterbrochen, um Gedächtnislücken zu vertuschen, die durch bestimmte Gedächtnisverluste (z. B. organisch bedingte Amnesie) verursacht werden. Bei archetypischen pathologischen Lügnern ist der Zustand psychologisch (und nicht organisch) bedingt.
- Ganser-Syndrom (GS): GS ist eine seltene dissoziative Störung (nur 101 dokumentierte Fälle), die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Betroffenen unsinnige Antworten auf Fragen geben (und auch unter vielen anderen Namen wie „Nonsens-Syndrom“ und „Balderdash-Syndrom“ bekannt ist). Im Gegensatz zu den ausgeklügelten und manchmal phantastischen Geschichten, die von archetypischen pathologischen Lügnern erzählt werden, sind die Lügen, die von Menschen mit GS erzählt werden, sehr simpel und ungefähr.
- Faktische Störung (FD): FD ist die absichtliche Verwendung von Lügen und/oder Übertreibungen in Bezug auf psychologische und/oder physische Symptome ausschließlich zu dem Zweck, die Rolle einer kranken Person zu übernehmen (früher bekannt als Münchhausen-Syndrom). Im Gegensatz dazu will der archetypische pathologische Lügner anderen Menschen gegenüber nicht als krank erscheinen.
- Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD): BPD ist ein Zustand, bei dem Menschen langfristige Muster von instabilen und/oder turbulenten Emotionen aufweisen. Pathologisches Lügen und Täuschung sind die Hauptmerkmale der BPD, und Lügen werden typischerweise zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen erzählt. Allerdings haben BPD-Patienten typischerweise widersprüchliche Ansichten über sich selbst und verfügen über keine einheitliche Selbstidentität. Ein Mangel an Impulskontrolle kann die Verzerrungen und Lügen begünstigen.
- Antisoziale Persönlichkeitsstörung (APD): Bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung handelt es sich um ein langfristiges Muster der Manipulation, der Ausbeutung oder der Verletzung der Rechte anderer (und oft auch um kriminelle Handlungen). Menschen mit APD lügen oft wiederholt und konsequent allein aus Gründen der persönlichen Befriedigung. Obwohl Menschen mit APD oft pathologische Lügner sind, haben archetypische pathologische Lügner selten gestörte antisoziale Persönlichkeiten.
- – Histrionische Persönlichkeitsstörung (HPD): Menschen mit HPD handeln hochemotional und dramatisch, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie lügen oft, um ihr dramatisches und aufmerksamkeitsheischendes Verhalten zu verstärken und/oder zu erleichtern. Im Gegensatz dazu suchen archetypische pathologische Lügner nicht ständig nach Aufmerksamkeit.
Auf der Grundlage der obigen Liste ist es offensichtlich, dass das Symptom des pathologischen Lügens bei einigen psychischen Störungen (z. B. FD, BPD) auftreten kann und als sekundäres pathologisches Lügen bezeichnet werden könnte. Es ist jedoch weit weniger klar, ob es unabhängig von einer bekannten psychiatrischen Störung auftreten und als primäres pathologisches Lügen bezeichnet werden kann. Im Gegensatz zu den anderen oben beschriebenen Formen des Lügens scheint pathologisches Lügen laut Dr. Dike ungeplant und impulsiv zu sein. Trotz aller Spekulationen ist immer noch relativ wenig bekannt, obwohl man davon ausgeht, dass es Männer und Frauen gleichermaßen betrifft und in der späten Adoleszenz beginnt. Es gibt keine zuverlässigen Prävalenzzahlen, obwohl eine Studie schätzte, dass einer von 1.000 jugendlichen Wiederholungstätern darunter leidet.
Auf biologischer und neurologischer Ebene wurde in einem im Journal of Neuropsychiatry and Clinical Neurosciences veröffentlichten Artikel von Dr. J.G. Modell und Kollegen über den Fall eines pathologischen Lügners berichtet, bei dem ein Gehirnscan durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass sein Zustand mit einer rechtshemithalamischen Dysfunktion verbunden war. Dies bestätigte die Hypothese, dass der Thalamus und die damit verbundenen Hirnregionen bei der Modulation von Verhalten und Kognition eine Rolle spielen.
In einer 2007 im British Journal of Psychiatry veröffentlichten Studie von Dr. Y. Yang und Kollegen wurden Unterschiede in der Gehirnstruktur zwischen pathologischen Lügnern und Kontrollgruppen festgestellt. Pathologische Lügner wiesen eine relativ weit verbreitete Zunahme der weißen Substanz auf (etwa ein Viertel bis ein Drittel mehr als die Kontrollgruppe), und die Autoren schlugen vor, dass diese Zunahme einige Personen für pathologisches Lügen prädisponieren könnte.
Diejenigen, die im psychischen Gesundheitssystem arbeiten, müssen dem pathologischen Lügen Aufmerksamkeit schenken, damit sie die Juristen darüber informieren können, ob pathologische Lügner für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden sollten. Die Frage, ob pathologische Lügner sich ihrer Lügen bewusst sind, hat große Auswirkungen auf die forensische Psychiatrie. Laut Dr. Dike könnte dies dazu beitragen, wie ein Gericht mit pathologischen Lügnern umgeht, die unter Eid falsch aussagen.