Eine kurze Analyse von Emma Lazarus‘ ‚The New Colossus‘

Von Dr. Oliver Tearle

Emma Lazarus ist vor allem für ihr Gedicht ‚The New Colossus‘ bekannt, das den Sockel der Freiheitsstatue ziert. Das 1883 geschriebene Gedicht trug dazu bei, die populäre Vorstellung von der Freiheitsstatue als willkommener Mutter und von Amerika als der großen Nation der Einwanderer zu prägen. Zu dieser Auffassung trug auch die Tatsache bei, dass die Statue das erste große Wahrzeichen der USA war, das Einwanderer bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten zu sehen bekamen. Hier ist ‚The New Colossus‘, zusammen mit einigen Worten der Analyse.

The New Colossus

Nicht wie der eherne Riese griechischen Ruhmes,
mit erobernden Gliedern rittlings von Land zu Land;
Hier an unseren meerumspülten, sonnenuntergehenden Toren soll stehen
Eine mächtige Frau mit einer Fackel, deren Flamme
der gefangene Blitz ist, und ihr Name
Mutter des Exils. Von ihrer Leuchtfeuerhand
strahlt weltweiter Gruß; ihre milden Augen beherrschen
den luftüberbrückten Hafen, den die Zwillingsstädte umrahmen.

‚Bewahre, altes Land, deine sagenhafte Pracht!‘ ruft sie
Mit stillen Lippen. ‚Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Ihre zusammengekauerten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen,
Der elende Abfall eurer wimmelnden Küste.
Sendet mir diese, die Obdachlosen, die Sturm und Drang sind,
Ich hebe meine Lampe neben die goldene Tür!‘

Die Ankunft der Freiheitsstatue in den Vereinigten Staaten von Frankreich im Jahr 1886 war ein großes nationales Ereignis: man nimmt an, dass sie die allererste Ticker-Tape-Parade inspiriert hat. Lazarus‘ Gedicht genoss nicht ganz den gleichen Beifall. Tatsächlich wurde es zu ihren Lebzeiten kaum gelesen. The New Colossus“ wurde in Auftrag gegeben, um Geld für den Bau der Statue zu sammeln, aber erst nach ihrem Tod im Jahr 1887 wurde das Gedicht veröffentlicht.

Allerdings sollte das Gedicht erst 1945 weithin bekannt werden, als es über dem Eingang der Freiheitsstatue eingraviert wurde. Nicht nur das, Frankreich wollte mit der Freiheitsstatue auch Propaganda betreiben, indem die weibliche Personifikation der Freiheit – jenes Schlagwort der französischen Revolution – ein Leuchtfeuer der Aufklärung für die noch unter Tyrannei lebenden europäischen Länder symbolisieren sollte.

Aber Lazarus verdrehte diese propagandistische Absicht und sorgte mit ihrem Gedicht dafür, dass die Freiheitsstatue stattdessen als Leuchtturm des Willkommens für die Einwanderer angesehen wurde, die ihre europäischen Mutterländer verließen, für die neue „Mutter der Exilanten“.

Zusammengefasst hat Lazarus‘ Gedicht die Form eines Petrarca-Sonetts, das sich auf abbaabba cdcdcd reimt. Wie ihr Titel deutlich macht, ist die Freiheitsstatue ein „neuer Koloss“; Lazarus‘ Titel kontrastiert diese moderne Statue mit dem Koloss von Rhodos, einem der Sieben Weltwunder der Antike. Einem im Mittelalter verbreiteten Irrglauben zufolge überspannte der Koloss den Hafen und war somit, wie die Freiheitsstatue, eines der ersten Dinge, die ankommende Reisende begrüßten.

In Wirklichkeit stand der Koloss nicht rittlings über dem Hafen, aber dieser Mythos hilft Lazarus, die „unverschämte“ männliche Statue des griechischen Kolosses („unverschämt“ hat eine doppelte Bedeutung: die Statue war buchstäblich mit Messingplatten bedeckt, aber sie steht auch kühn rittlings über dem Wasser wie ein Eroberer) der einladenderen weiblichen Freiheitsstatue gegenüberzustellen.

Dieser einladende Charakter ist auch im Beinamen der Statue enthalten, „Mutter der Verbannten“: Dieser neue Koloss wird eine nährende, fürsorgliche Figur sein, ein Leuchtfeuer der Unterstützung für diejenigen, die aus ihren eigenen Ländern irgendwo auf der Welt vertrieben wurden. Wir sind weit entfernt von der „erobernden“ Ausbreitung des griechischen Kolosses.

Kritiker sind sich uneinig über die Bedeutung der achten Zeile, „The air-bridged harbor that twin cities frame. Carol Rumens hat vorgeschlagen, dass sie sich auf den Bau der Brooklyn Bridge in dem Jahr bezieht, in dem das Gedicht geschrieben wurde, und dass es sich bei den Städten, auf die Bezug genommen wird, um Brooklyn und New York als getrennte Siedlungen handelt.

Die sechsteilige Strophe, die das Gedicht abschließt, gibt der Freiheitsstatue eine Stimme, indem sie sich vorstellt, dass ihre „stummen Lippen“ die ankommenden Einwanderer ansprechen und sie im Land der Freien willkommen heißen. Lazarus‘ Formulierung „the huddled masses yearning to breathe free“ (die zusammengepferchten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen) ist auch denjenigen vertraut, die das Gedicht nicht gelesen oder gar davon gehört haben. Die Zeile wird unauslöschlich mit der Freiheitsstatue selbst assoziiert.

Das Gedicht ist voller Kontraste: Bilder von Land/Meer, Feuer/Wasser, Licht/Dunkel, Freiheit/Gefangenschaft finden sich in diesem kurzen Sonett. Aber vielleicht ist der wichtigste Kontrast in Lazarus‘ Gedicht letztlich der zwischen alt und neu, genauer gesagt zwischen dem alten und dem neuen Koloss, und damit zwischen der Alten und der Neuen Welt Amerikas. Behaltet, alte Länder, euren geschichtsträchtigen Prunk!“, ruft der neue Koloss. Die alten Länder Europas können ihre Geschichte behalten; Amerika, das neue Land der Freien, bietet jedem, der danach sucht, einen Neuanfang.

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Der Autor dieses Artikels, Dr. Oliver Tearle, ist Literaturkritiker und Dozent für Englisch an der Universität Loughborough. Er ist u.a. Autor von The Secret Library: A Book-Lovers‘ Journey Through Curiosities of History und The Great War, The Waste Land and the Modernist Long Poem.

Bild: Kupferstich von Emma Lazarus von T. Johnson, 1872; Wikimedia Commons.

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